Bericht der drei Studienräte Cohn, Schmidt und Blume vom städtischen Humboldtgymnasium zu Berlin über die Sammelschule auf der Insel Scharfenberg (1921)

Quelle: Berlin, Landesarchiv, Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg
Veröffentlichung: Marburg 1999: http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1999/0001/q10.html - Zuvor als: Zur Geschichte der Schulfarm. Bericht der drei Studienräte Blume, Cohn und Schmidt vom städtischen Humboldtgymnasium zu Berlin über die Sommerschule auf der Insel Scharfenberg (1921) (=Neue Scharfenberg-Hefte, 1), Berlin 1982.
Literatur: Haubfleisch, Dietmar: Schulfarm Insel Scharfenberg. Mikroanalyse der reformpädagogischen Unterrichts- und Erziehungsrealität einer demokratischen Versuchsschule im Berlin der Weimarer Republik (=Studien zur Bildungsreform, 39), Frankfurt [u.a.] 2001, bes. S. 122-134.


Bericht der drei Studienräte Blume, Cohn und Schmidt vom städtischen Humboldtgymnasium zu Berlin über die Sommerschule auf der Insel Scharfenberg (1921)

Die Untersekunda-0 des Humboldtgymnasiums in Berlin hat mit dreien ihrer Lehrer vom 30. April bis zum 8. Juli und vom 11. August bis zum 30. September 1921 auf der Insel Scharfenberg im Tegeler See gelebt. In der Zwischenzeit vom 9. Juli bis 10. August haben jetzige und auch einige ehemalige Schüler des Gymnasiums - insgesamt 34 -, die aus finanziellen Gründen oder sonstiger Familienverhältnisse wegen sich keines Landaufenthalts in der Ferienzeit hätten erfreuen können, in den Scharfenberger Inselschulheim Erholung gefunden. Der vorliegende Bericht beschränkt sich auf die ca. 4 Monate (17 1/2 Wochen) umfassenden Schulzeit.

I. Teil

Der Plan, für das Humboldt-Gymnasium eine Sommerschule zu gründen, ist in ca. 1 1/2 Jahren entstanden, aus dem Zusammenleben der 3 Lehrer mit ihren Jungen an Sonnabenden und Sonntagen in dem 1919 von der Schulgemeinde eingerichteten Wanderheim im Stolper Forst, dort sind die Beteiligten in der Erkenntnis bestärkt worden, wie ungemein wohltuend ein längerer Aufenthalt in einem derartigen Waldheim, insbesondere für die Schüler der Mittelklassen sein müßte, welche die Schäden der Kriegs- und Nachkriegszeit im besten Wachstumsalter erfahren hatten; um so wohltuender und notwendiger für die Schüler einer Anstalt, die im ungesundesten Norden der Großstadt liegt und fast ausschließlich aus den Kreisen des verarmten Mittelstandes, des wirtschaftlich soviel schlechtergestellten Beamtentums beschickt wird. Ferner war ihnen da draußen zur Gewißheit geworden, wie bitter not der Jugend in unserer egozentrisch bestimmten Zeit eine Erziehung zum Gemeinschaftssinn in engem Zusammenleben mit anderen und für andere sei; gleichzeitig hofften sie dabei ihre jahrelangen Bemühungen, den Schülern die Freude an der Schule wiederzugeben, durch Vertiefung und Belebung des Unterrichts in gemeinsamen außerunterrichtlichen Unternehmungen, durch kameradschaftlichere Gestaltung des Verhältnisses zwischen Lehrer und Schüler, durch freies Betätigenlassen in den erweiterten Aufgaben der Selbstverwaltung, erfolgreicher fortsetzen zu können - unbehelligt von den Schwierigkeiten großstädtischen Lebens und den mancherlei Gegenwirkungen im Collegium. Aus der Beobachtung, daß das Verschicken einzelner Schüler aus verschiedenen Klassen, wie es durch das städtische Jugendamt und Wohlfahrtsvereinigungen auch an unserer Anstalt vermittelt ward, oft ein Zurückbleiben der heimgekehrten Kinder in den Schulleistungen oder eine baldige berspannung ihrer eben erst angesammelten Kräfte im Gefolge hatte, ergab sich der Gedanke, mit einer Klasse geschlossen hinauszuziehen und ihren wissenschaftlichen Unterricht ungeschmälert durchzuführen. Man wählte eine Osterklasse, da in ihr mit Versetzungssorgen nicht gerechnet werden brauchte, und die Untersekunda nicht nur deshalb, weil den in den mageren Jahren aufgeschossenen Knaben ein Aufenthalt in der Natur bei kräftiger Kost besonders zu gönnen war; eine solche Sezession ins Ungewisse mit Sack und Pack hat gerade für das erwachende Selbständigkeitsstreben der neugebackenen Sekundaner ihren ganz speziellen Reiz, sie sind einerseits groß genug, um sich auch ohne ständige mütterliche Fürsorge zu behelfen und bei der Arbeit im Haus sowie draußen tüchtig mit Hand anzulegen, andererseits noch nicht zu erwachsen, noch nicht zu sehr mit großstädtischen Interessen liiert, mit Tanz- und Privatstundennöten beschäftigt, für engen Verkehr mit dem Lehrer noch durchaus empfänglich und gleichzeitig auch schon fähig, da draußen eigenes zu erleben, die Naturstimmungen für sich zu empfinden, ernstere Freundschaften zu schließen, sich allmählich des tieferen Sinns solchen Gemeinschaftslebens bewußt zu werden und sich nachhaltiger von seinen Wirkungen beeinflussen zu lassen; die mannigfaltigen Anforderungen solchen Zusammenlebens von früh bis spät, die Regelmäßigkeit und Einfachheit, die Anspannung bei täglich betriebenem Sport und Spiel, die Fülle sonstiger Betätigungsmöglichkeiten, die potenzierten Anregungen auf geistigem Gebiet vermögen gerade in diesem Entwicklungsalter über manche Gefahren hinwegzuhelfen. Zudem waren die Schüler der U II 0 den drei Lehrern durch längeren Unterricht - zum Teil von klein auf - vertraut und die damit gegebenen direkten oder zumindest indirekten Beziehungen zum Elternhaus eine wichtige Vorbedingung für das Gelingen des Plans, mußte doch, falls nicht umgekehrt wie bei der bisherigen Praxis nunmehr die etwa in der Stadt zurückbleibenden Schüler in ihren Leistungen Schaden nehmen sollten, das Einverständnis aller U II 0-Eltern gewonnen werden.

In der für sie anberaumten Versammlung, in der die drei Antragsteller ihren vom Direktor des Gymnasiums und von dem Vorsitzenden des Elternbeirats warm befürworteten Plan im einzelnen darlegten und die aufgrund der Selbsteinschätzung abzustufende finanzielle Mithilfe zur Bestreitung des Lebensunterhalts der 22 Jungen auf 2 Monate erbeten, ward der Vorschlag von einzelnen begeistert und auch von dem Gros im wesentlichen günstig, wenn auch anfänglich mit einer gewissen Zurückhaltung aufgenommen. Die Besorgnisse all zu ängstlicher Mütter wurden von weniger ängstlichen beschwichtigt, die für die Nachkriegszeit sehr charakteristischen Befürchtungen vieler Väter, das Unterrichtspensum könnte vielleicht nicht erledigt werden, durch bindende Zusagen der Lehrer zerstreut; die fast erschütternden Bekenntnisse einzelner Eltern über die Ernährungs- und Wäscheverhältnisse ihrer halb erwachsenen Söhne nahm die Mehrheit als Ansporn, die unleugbar vorhandenen großen Schwierigkeiten auf finanziellem Gebiet zu überwinden. Um so nachdrücklicher wies die an Zahl sehr kleine Opposition auf diese zweifelnd hin und gab in der erfreulich offenen Aussprache auch grundsätzlicher Abneigung gegen "derartige überflüssige Experimente" Ausdruck; von anderer Seite ward bedauert, daß in der Sommerschulzeit der Einfluß des Familienlebens ausgeschaltet sein werde; ein anderer Vater, der der Einladung nicht gefolgt war, faßte seine Meinung brieflich dahin zusammen: "Verschaffen Sie jedem Schüler eine tägliche Wurstration von 125 gr., und wir brauchen keine Sommerschule, keinen Unterricht im Freien, keine Wandertage, auch nicht Turnunterricht als Hauptfach": Nach erneuter Rücksprache mit einzelnen und weiteren Ausführungen in einer vom Elternbeirat einberufenen Vollversammlung der Eltern der Anstalt erklärten sich alle 20 Väter in geschlossen abgegebenen Briefen bereit, je nach ihrer Vermögenslage einen täglichen Verpflegungsbeitrag in den Monaten Mai und Juni zu zahlen, dessen Höhe zwischen 5 und 16 M variierte und im Durchschnitt 8 M betrug; und die übrigen 2 Schüler, die in einem katholischen Privatinternat in Hermsdorf freien Unterhalt genießen, bekamen von ihrem Gönner wenigstens die Erlaubnis, täglich mit der Bahn statt nach Berlin, zum Unterricht in der Sommerschule zu fahren. Als nach Ablauf der beiden Monate die Lehrerkonferenz einen Wechsel der Klasse nicht wünschte und so die U II 0 zur Freude der Majorität ihrer Insassen nach den großen Ferien auf die Insel zurückkehrte, haben drei Väter, - es waren die, die auch bisher nur mehr oder weniger mit Widerstreben eingewilligt hatten, - ihre Söhne nicht weiterhin draußen wohnen lassen und sie nach Bescheid des Provinzialschulkollegiums, sie könnten in Berlin nur an dem Unterricht der Michaelisklasse als Hospitanten teilnehmen, ebenfalls nur für den Vormittag hinausgeschickt. Für das peinliche Gefühl, dessen sich die Lehrer doch manchmal nicht erwehren konnten, diese drei durch einen moralischen Zwang zu einem so weiten Schulweg genötigt zu haben, wurden sie durch das von Woche zu Woche wachsende Verständnis der übrigen Eltern entschädigt; 7 Familien hatten sogar gebeten, ihre Söhne mehrere Ferienwochen über im Heim lassen zu dürfen, trotzdem gerade einige von ihnen selbst außerhalb der Großstadt - in Waidmannslust - wohnten. Da die meisten Eltern von der Besuchserlaubnis an Mittwochnachmittagen und Sonntagen eifrig Gebrauch machten, fühlten auch sie sich immer mehr und mehr als Glieder der Scharfenberger Familie, trugen zur Ausschmückung der Zimmer bei, beteiligten sich an Spielen, freuten sich am Schwimmen ihrer Söhne, besprachen im Spazierengehen mit den Lehrern die innere Entwicklung ihrer Sprößlinge und es begann sich ganz von selbst anzubahnen, was in Reformschriften als die wahre Schulgemeinde im umfassendsten Sinne bezeichnet wird. Man kann wohl sagen, daß durch den praktisch durchgeführten Versuch manchen Vorurteile in Elternkreisen beseitigt, viele Familien für eine natürlichere, frischere, auf den Ton freudiger Mitarbeit gestimmte Art der Erziehung gewonnen worden sind. Als äußeres Zeichen ihrer Dankbarkeit für das, was ihre Kinder und sie selbst draußen erfahren durften, haben "die ersten Scharfenberger Eltern" einen Fonds von 750 M gesammelt und ihn am letzten Besuchstage, an dem sich wirklich noch einmal in wirklicher Abschiedsstimmung bei schönstem Herbstsonnenschein alles auf der Insel vereinte, durch ihren Sprecher den drei Lehrern überreicht, "damit ihn diese nach ihrem Ermessen zum weiteren Ausbau der Scharfenbergschule verwenden". Der Elternbeirat des Humboldtgymnasiums hat sein Interesse durch einen Sonntagsbesuch bekundet, der durch einen von seinem Vorsitzenden Herrn Pfarrer Holstein im Freien gehaltenen Gottesdienst eine besondere Weihe erhielt, einige Mitglieder haben auf Wunsch des Direktors diesem ausführliche Gutachten über das Gesehene eingereicht; auf Ersuchen des Beirats wurde der ersten Gesamtelternversammlung im Winterhalbjahr von den Lehrern über die Erfahrungen des Sommeraufenthalts Bericht erstattet; in der sich daran anschließenden Diskussion war eine Vertiefung der Teilnehmer für pädagogische Fragen deutlich zu beobachten; der vom Standpunkt der Familienerziehung erneut erhobene Widerspruch blieb vereinzelt und ward von der Phalanx der Mütter des Scharfenbergjahrgangs in rührender Entrüstung und mit guten Gegengründen aus dem Erleben des letzten Sommers zurückgewiesen. Auch bei anderen Veranstaltungen der Schule bezeugte die zahlreiche Beteiligung der Eltern gerade der U II 0-Klasse, daß ein derartiges Unternehmen viel dazu beiträgt, das Band zwischen Schule und Elternhaus enger zu knüpfen.

Da das Elternpublikum des Humboldtgymnasiums über größere Geldmittel zu Stiftungszwecken nicht verfügt, war in diesem Falle die Stellungnahme und Mithilfe der Behörden von weit entscheidenderer Bedeutung als für die anderen derartigen Unternehmungen, wie das des Reformrealgymnasiums "Frankfurter Musterschule", der Victoriaschule in der gleichen Stadt oder das der Kaiser Wilhelm II - Oberrealschule in Göttingen, denen Elternschaft und ehemalige Schüler fertig eingerichtete Landheime für mehrere hunderttausend Mark zu ähnlichen Zwecken gekauft haben. Wir schulden außer dem Provinzialschulkollegium, das auf Antrag des Direktors sofort seinen Genehmigung erteilt und durch mündliche Äußerung des Herrn Oberschulrats Dr. Michaelis etwa notwendig werdende Abweichungen vom Lehrplan sanktioniert hat, vor allem Dank den städtischen Behörden, die auf den Antrag der drei Studienräte mit freudigem Entgegenkommen und entschlossener Hilfsbereitschaft eingegangen sind. Die Dezernentin für Jugendpflege im Berliner Magistrat [Clara Weyl] erschloß uns im Vertrauen auf das am Stolper Schulgemeindeheim ohne jede städtische Unterstützung Geleistete das auf der städtischen Insel Scharfenberg gelegene, seit langem unbewohnte Herrenhaus, das mit seinen 10 hohen und hellen Zimmern sowie der großen Küche im Erdgeschoß ungleich besser für den Zweck geeignet war als das im Antrag dafür in Aussicht genommene Stolper Waldhäuschen; sie erwirkte ferner vom städtischen Jugendamt eine Beihilfe zu den täglichen Verpflegungskosten in Höhe der bei der Verschickung nach Ostpreußen üblichen Zuschüsse, ermöglichte die Anschaffung eines neuen bersetzkahnes zur Aufrechterhaltung des Verkehrs mit dem Festlande und veranlaßte das städtische Milchamt in der Meierei Bolle und das Büro für Ausstattung städtischer Verwaltungsgebäude zur leihweisen Hergabe der nötigen Betten, Tische, Stühle, Schränke, Waschständer (?). Die Magistratsabteilung für Volksspeisehallen überließ die Kücheneinrichtung zu billigem Friedenspreis. Die Deputation für äußere Angelegenheiten der höheren Schule erklärte sich nach Befürwortung durch den Oberstadtschulrat Paulsen zwei Tage nach der stürmischen Schuldebatte im Rathaus einstimmig bereit, die Kosten für das Material zur Instandsetzung der Villa zu übernehmen, wenn die Schüler durch Reinigungs- und Bauarbeiten die teuren Löhne ersparten; bei einem längeren Besuch der Deputation, bei dem Deutschnationale, Volksparteiler, Demokraten, Sozialisten und Kommunisten zum Staunen der Schüler ganz friedfertig in liebenswürdig-kollegialem Gespräch in bunter Reihe mit ihnen an der Mittagstafel saßen, bekundeten alle Mitglieder ohne Unterschied der Partei ihr lebhaftes Interesse.

Diesem begegnete man auch bei reichen Privaten, bei denen angeklopft ward; so überwiesen die Firmen Ullstein und Mosse aus dem für Ferienkolonisten gesammelten Fonds, die Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft und ihr früherer Präsident Dr. Rathenau, einige tausend Mark, die als Reservekasse hochwillkommen waren. In überaus großzügiger Weise hat die Gesellschaft der amerikanischen Quäker das Unternehmen gefördert, indem sie in Säcken und Kisten für alle Schüler an sämtlichen Tagen des Aufenthalts die Nahrungsmittel für das warme Frühstück spendete, von dem prächtigen Gedeihen seiner Pfleglinge hat sich das Service Dommittee of American Friends bei einem Vormittagsbesuch überzeugt. Die Pumpenfabrik des Herren Schepmann stiftete die Röhren für die Brunnenanlage, ein anderer Gönner verlieh für das zweite Vierteljahr ein Harmonium.

II. Teil

Die langgestreckte, 93 Morgen große Insel Scharfenberg inmitten der Fluten des Tegeler Sees, dessen reizvolle Ufer rings märkischer Wald dunkel umrandet, ist sicher wie wenige Örtlichkeiten für derartige Schulzwecke geeignet. Die insulare Lage verbürgt die denkbar reinste Luft, bietet die schönste Gelegenheit zum Baden und Rudern, macht unliebsame Störungen von außen so gut wie unmöglich; da Zeitungen nur sporadisch oder hinter den Ereignissen herhinkend auf die der direkten Postverbindung (ermangelde) Insel gelangten, wurde jung und alt der leidigen Augenblicksaufregung der Politik die Zeit über entrückt, die stille Einsamkeit mit dem ständigen Blick auf den gleichmäßig plätschernden See muß überreizte Nerven gesunden lassen und zur Besinnlichkeit einladen; die weiten Rasenflächen fordern zum Spiel auf, und die vielen lauschigen Plätzchen begünstigen ein Vertiefen in die Lektüre; die Mannigfaltigkeit der Fauna und die von dem berühmten Naturforscher Dr. Bolle in jahrzehntelanger Sorgfalt herangepflegte Vegetation, in der auch die seltensten Kiefersorten, Douglasfichten, amerikanische Eichen, Populi Bolleanse, japanische Tulpenbäume, Eiben- und Bambussträucher vertreten sind, ermuntern zum Beobachten der Natur; historisch-literarische Erinnerungen kommen anregend hinzu; nicht nur, daß Seidel im Leberecht Hühnchen dem Vorbesitzer der Insel, dem Ornithologen und Sonderling Dr. Bolle ein Denkmal gesetzt hat, mehr wollte es zumal für die Humboldtgymnasiasten bedeuten, daß die ihnen überwiesene Insel einst Eigentum der Familie von Humboldt gewesen war, daß hier, wie die berlieferung zu melden weiß, Alexander und Wilhelm mit ihrem Hauslehrer Campe ein romantisches Jugendleben geführt haben.

Demgegenüber fielen einige Mängel nicht allzusehr ins Gewicht. Gewiß hatte die Beschaffung der Lebensmittel ihre Schwierigkeiten, aber gerade weil zum Einholen der Wasserweg benutzt werden mußte, fanden sich unter den Schülern leicht willige Helfer. Die Nähe Berlins, so vorteilhaft sie für eine Dauerschule auf der Insel, allzu einseitiges Einkapseln zu verhüten, sein müßte, hatte für zeitweisen Aufenthalt auch ungünstige Wirkungen: sie verlockte bei der Veränderungssucht der jugendlichen Natur manchen um geringfügiger Familienanlässe willen öfters als nötig an Sonnabenden und Sonntagen nach Hause zu fahren, wodurch die Stetigkeit des Heimlebens zuweilen gestört und die Möglichkeit gemeinsamer Unternehmungen in der dafür passenden Zeit beeinträchtigt wurde. Nicht zu den Annehmlichkeiten gehörte ferner die Unklarheit des Rechtsverhältnisses zu dem auf der Insel Landwirtschaft treibenden Pächter, bei der sich Reibungen und Ärgernis nicht ganz vermeiden ließen.

Was dem Laien zunächst auch als ein Nachteil hätte erscheinen können, - der reinigungs- und erneuerungsbedürftige Zustand der Innenräume in dem seit 10 Jahren leer gebliebenen Haus, erwies sich als heilsame Schule der Selbsttätigkeit. Freilich ohne die Mithilfe der Studenten, die als Primaner beim Einrichten des Schulgemeindeheims in Aufräumungs- und Hausarbeiten geschult waren und nun in den Osterferien den jetzigen Humboldtianern mit gutem Beispiele vorangingen, wären die Schwierigkeiten nicht zu überwinden gewesen. Ein Obersekundaner, der in der ersten Arbeitskolonne zu dem großen Osterreinemachen teilgenommen hat, schreibt in seinem Tagebuch: "Und nun öffneten wir das verwunschene Schloß mit dem großen eisernen Schlüssel; doch dicker Staub war vor allem. 5, 6 Tage währte der Kampf mit Besen und Bürste, wolkenweiß verließ der Feind die Stellungen, hartnäckig verteidigte er noch seine letzten Bollwerke gemeinsam mit einer Legion von Spinnen: Ermattet und zerschlagen lagen wir allabendlich mit unseren Lehrern im Stroh, im sogenannten blauen Zimmer.....". Und dann wurde tapeziert und geweißt, Löcher mußten ausgegipst und die Fußböden viele Male gescheuert werden; sogar die fehlende Klosettanlage ward kunstgerecht allein gemauert und gezimmert; beim Putzen der oft grün bemoosten Fenster legten die Frauen der Lehrer und Schwestern der Schüler mit Hand an; der Wandertag gegen Ende April ward benutzt, die hoch mit Schränken und Stühlen, Bücher-Kisten und Kesseln bepackten Fuhren abzuladen, die Bretter der Lazarettbetten im See zu waschen und mit der Möblierung der Zimmer zu beginnen. Sauberkeit und Einfachheit waren dabei leitender Grundsatz; als Wandschmuck dienten buntfarbige sog. freie Schülerzeichnungen und Klebearbeiten. Da Lichtanlage fehlte, behalf man sich ohne Murren mit den mitgebrachten Petroleumlampen den Sommer über recht gut. Zum Schlafen wurden nur Strohsäcke geliefert. Die Auswahl der Stubenkameraden (durchschnittlich 5 für 1 Zimmer) geschah aufgrund vorher abgegebener Wunschlisten; das Herabsetzen der Zahl der Zusammenwohnenden, das nach Neueinrichtung einiger Zimmer im Oberstock möglich war, ward von den Schülern als ein wesentlicher Fortschritt empfunden. Der ganze Umgangston ward dadurch höher gestimmt, gemütlicher, herzlich noch; von Anfang an kam man auf der Basis vollständiger Gleichberechtigung und gleicher Verantwortung ohne die Aufsichtsbefugnisse eines Stubenältesten aus. Eine geschriebene Hausordnung war nicht vorhanden; die Obliegenheiten der einzelnen in ihren Zimmern, (Bettmachen, Ausfegen, Aufwaschen), das nicht zu umgehende Schema der Tageseinteilung, die allernotwendigsten Verbote ergaben sich mit der Zeit von Fall zu Fall aus der Praxis des Zusammenlebens von selbst. Die Beteiligung an den nachmittäglichen und abendlichen Veranstaltungen war jedem freigestellt; nur für die Gesamtheit im Umlauf zu leistende Dienste wurden durch Anschlag am schwarzen Brett fester geregelt und auch bei Gelegenheit kontrolliert.

Diese häuslichen Pflichten erfüllten 4 Gruppen zu je 2 Mann in täglichem Wechsel: 2 versehen den Fährdienst, 2 holten das Wasser für die Küche aus dem Brunnen und die Milch aus dem Stall des Pächters, 2 hatten die Treppen und den Saal, der der Gesamtheit als Gesellschaftsraum diente, zu reinigen, die Speisen aufzutragen und das Geschirr abzuräumen, das 4. Paar säuberte den gemeinsamen Waschraum und sorgte morgens und abends für frisches Wasser in Kannen und Becken. Außer einer Wirtschafterin, die mit Kochen und Küchenarbeit vollauf zu tun hatte, war Personal nicht gemietet. Von den Lehrern waren, da die U II 0 infolge der im Humboldtgymnasium auf der Mittelstufe möglichen Gabelung aus einer Gymnasial- und einer Real-Gymnasialabteilung bestand, 43 wissenschaftliche Unterrichtsstunden zu erteilen, davon gab Herr Cohn entsprechend seiner Fakultät 7 Stunden Latein in der Gesamtklasse, 6 Stunden Griechisch und 3 Stunden Französisch gymnasial, dazu 3 Stunden Englisch real, zusammen 19 Stunden, seine volle Zahl; sein Plan war so gelegt, daß er einen Vormittag in der Woche im Berliner Gymnasium sein konnte, um als Leiter der Bücherei die Bibliotheksgeschäfte zu erledigen. Herr Schmidt gab 4 Stunden Mathematik gymnasial, 2 Stunden Physik real und 2 Stunden Chemie in der Gesamtklasse; 8 Stunden in der Mutteranstalt wurden von einer ihr sowieso überwiesenen Hilfskraft vertreten; dafür hatte der Mathematiker in Scharfenberg die gesamte wirtschaftliche Leitung und finanzielle Verwaltung. Herr Blume unterrichtete 3 Stunden Deutsch, 2 Stunden Geschichte, 1 Stunde Erdkunde, 2 Stunden Religion in der Gesamtklasse, 4 Stunden Französisch in der Realabteilung; außerdem hatte er 6 (- 9) Stunden Deutsch und Geschichte in den Primen beibehalten, die er in Berlin an 2 Vormittagen erteilte; die übrigbleibende 1 Erdkundestunde seines Schulstundenplans übernahm freundlichst ein College, in Scharfenberg lag ihm ferner in erster Linie die Aufsicht im Hause und die Beschäftigung der Zöglinge außerhalb des Unterrichts ob. Daß trotz dieser Arbeitsteilung die enge Gemeinschaft mit den Jungen vom Aufstehen bis zum Schlafengehen mit dem Vielerlei von Anforderungen und einem gerüttelt vollem Maß von Verantwortung alle psychischen Kräfte der Lehrer anspannt, daß selbst die Sonntage mit ihren zahlreichen Gästen Zeit zur Sammlung und zur Erholung nicht lassen, dessen muß sich jeder Kollege, der derartiges unternehmen will, von vornherein bewußt sein.

III. Teil

Nur wenn die Lehrer unter Verzicht auf jede Bequemlichkeit mit den Jungen alles teilen, Tag für Tag mit und unter ihnen zu leben, ihre ganze Zeit ihnen zu widmen imstande sind, können die Ergebnisse ersprießlich sein; bei den mannigfachen Gefahren des Internatslebens kann sonst nur zu leicht der Segen einer solchen Einrichtung bei längerer Dauer in Unsegen verkehrt werden. Und ein Aufenthalt von längerer Dauer, mindestens 2 - 3 Monate hindurch ist nach unseren Erfahrungen notwendig, wenn er die Jugend in ihrer leiblichen und vor allem in ihrer inneren Entwicklung wirklich nachhaltig beeinflussen soll. Wer die Klassen in schnellerem Wechsel schon nach Wochen wie in Frankfurt oder gar nach Tagen wie im Göttinger Landschulheim (Zentralblatt für die preußische Unterrichtsverwaltung 1921, S. 472 [Anm. 1] sich ablösen läßt, muß nicht nur den Nachteil häufiger Stundenplanverschiebungen in Kauf nahmen: der erzieherische Wert ist dann mehr mit einer Schülerferienreise zu vergleichen. Brauchten doch die Jungen gut 8 - 14 Tage, bis sie sich in die neuen Verhältnisse eingelebt und die ersten oberflächlichen Entdeckungsfahrten in die Umwelt beendet hatten. Sogern die beteiligten Lehrer nach Ablauf der Monate Mai und Juni einer 2. Klasse die Segnungen gegönnt, auch selbst gern mit neuen Schülern neue Erfahrungen gemacht hätten, am Ende waren sie doch der Verlängerung des U II 0-Aufenthalts um 2 weitere Monate von Herzen froh: Schüler und Lehrer sind erst jetzt ganz zusammengewachsen; erst jetzt haben es die Schüler in der Mehrzahl zur stillen Freude der Lehrer allmählich an sich erfahren, daß die Scharfenbergzeit nicht bloß Vergnügen, mehr als eine angenehme Unterbrechung des eintönigen Schuldrills zu bedeuten habe; jetzt erst sind sich manche unmerklich fast bewußt geworden, daß hier im Verkehr mit der Natur, im Umgang mit den Kameraden, im Austausch mit den Lehrern tiefere Kräft am Werk waren, ihr Innenleben zu bereichern, einer ernstere Auffassung, eine vielfach ganz andere Lebensrichtung anzubahnen. Ein kleines, doch sprechendes Symptom dafür war, daß die Insassen eines Zimmers in den letzten Wochen den Lehrer beim Gutenachtsagen des öfteren baten, ihnen vor dem Einschlafen noch etwas aus Lietz' Lebensbuch [Anm. 2] oder aus dem hochgestimmten Erziehungsroman Drude der G. Prellwitz [Anm. 3] vorzulesen, und einige andere, die es hörten, fanden sich dazu. Bezeichnenderweise wurden die gesundheitlichen Ergebnisse, die zunächst im Vordergrund des Interesses bei Eltern und Schülern gestanden hatten, in der zweiten Hälfte Nebensache.

Dabei sollen sie natürlich keineswegs unterschätzt werden; in unserem Fall war zudem die Gunst der Verhältnisse so groß, daß die in dieser Beziehung hochgespannten Erwartungen noch übertroffen wurden. Eine ernstere Erkrankung ist in den 4 Monaten überhaupt nicht vorgekommen; in der Krankheits- und Unfalliste waren außer zwei leichten Fällen von Nesselfieber, die sich aus dem Umschlag der Kost erklärten, nur eine geschwollene Backe, eine verstauchte Hand, eine beim Spiel gestoßene Kniescheibe und einige ungefährliche Schnittwunden in der ersten Zeit des Barfußlaufens zu verzeichnen. Nur 6 Schüler von den auf der Insel wohnenden haben aus diesen Gründen Unterrichtsstunden und zwar im ungünstigsten Fall 20 versäumt. Das Körpergewicht nahm bei sämtlichen Schülern merklich im Durchschnitt um 7,5 Pfd. (in 2 Fällen um 14) zu, trotzdem sie wohl noch nie in ihrem Leben soviel gebadet und sich ausgetollt hatten. Der Dauerlauf vor Beginn des Unterrichts, der von einzelnen bis zur Umkreisung der ganzen Insel gesteigert ward, die Atem- und Freiübungen, die regelmäßig in der zweiten Pause unter Leitung eines vom Turnlehrer vorgebildeten Schülers gemacht wurden, Baden, Ballspielen, Kugelstoßen, wofür gewöhnlich die Zeit von 5 - 7 angesetzt war, stärkten die Lungen und Muskeln und wirkten in deutlich wahrnehmbarer Weise auf Körperhaltung und Bewegung. Die Messungen des Brustumfangs, die der Vater eines Schülers als ärztlicher Berater des Unternehmens statistisch aufzeichnete, hatten dann auch sehr erfreuliche Resultate; eine Mutter begrüßte nach längerer Trennung ihr Söhnchen, den zierlichsten in der Schar, mit den Worten. "Junge, du hast ja statt der Stöcker jetzt richtige Arme!" 6 Nichtschwimmer erlernten das Schwimmen; im Rudern übten sich alle derart, daß schließlich jedem mit gutem Gewissen der Kahn zu selbständiger Führung anvertraut werden konnte. Wettschwimmen über den See bei Tegelort um von Besuchern gestiftete Preise, ein Sportfest, wobei die Turnlehrer der Anstalt die Kampfrichter waren, gemeinsame Fahrten havelaufwärts in mehreren Booten gaben diesen Bestrebungen von Zeit zu Zeit frischeren Schwung. Mondscheinfahrten zur nahen Liebesinsel, wechselten mit Versteckspiel im Dickicht der Scharfenbergwildnis oder im hohen Uferschilf ab. - Größere Wanderungen sind außer einem nächtlichen Durchbruchsversuch gegen die im Stolper Forst kampierenden Humboldtkameraden voll lockender Räuberromantik und einem Tagesausflug nach Potsdam und Schloß Sanssouci nicht unternommen worden, bei der Fülle von Gelegenheiten zu nutzbringender körperlicher Anstrengung auf der Insel selbst und im Haus war dazu weder Bedürfnis noch Zeit; aus dem gleichen Grunde war auf stundenplanmäßigen Turnunterricht verzichtet; die Kräfte waren auch so derart in Anspruch genommen, daß an einem zu beliebiger Nutzung aufgestellten Barren nur wenig geübt ward. Der größte Einfluß auf Gesundheit und Abhärtung ist sicherlich dem ständigen Aufenthalt im Freien zuzuschreiben. Selbst noch bei herbstlicher Witterung wurden die Mahlzeiten draußen unter den hohen Eichen eingenommen.

Auch im Freien zu unterrichten, war Hauptgrundsatz. 90 Prozent aller Unterrichtsstunden wurden unter freiem Himmel gehalten; das Wetter bannte uns nur an 2 Tagen (von 90) den ganzen Vormittag über ins Haus. In diesem Ausnahmefall und wenn stärkerer Regen uns stundenweise ins Haus zu flüchten zwang, saß die Gymnasialabteilung an den hufeisenförmig im Saal plazierten Tischen, die Realabteilung auf der Glasveranda am See. Die vom Boden des Gymnasiums mitgeführten Schulbänke nebst der großen Tafel standen mitten im Park auf einem rings von einer Mauer oder dichten Buchsbaumhecken umhegten Platze, auf dem einst Dr. Bolle exotische Pflanzen im Windschutz akklimatisiert hatte. Wenn im Hochsommer um die Mittagszeit die Sonne zu stark am Platze schien oder nachher im Herbst die ersten Morgenstunden dort gar zu kühl waren oder uns sonst der Sinn danach stand, setzte man sich mit der Lektüre ins schattige Gras oder trug sich Stühle an die durchwärmteren Stellen des Seeufers. Die kleine Realabteilung las an den ganz heißen Tagen sogar auf hoher See, im Boot sich treiben lassend, ihren Moliere. Die Ablenkung der Aufmerksamkeit war geringer als man zunächst anzunehmen geneigt ist; der Gesang der Vögel, das Vorbeiziehen des weidenden Viehs wurde bald kaum noch als Störung empfunden; kleine scherzhafte Vorkommnisse wie das Durchwatscheln eines Entchens über den Schulplatz wirken nicht schlimmer als das Konzert des Leierkastenmanns im Hof der Gartenstraße in Berlin; Mücken und Wespen konnten wohl schon einmal lästiger fallen. Gewiß werden an die Stimmen der Unterrichtenden bei windigem Wetter stärkerer Anforderungen gestellt, dafür haben sie's aber auch eben so oft gespürt, daß "unter" des Himmels Angesicht man besser und freier spricht. "Die geistige Frische der Schüler zumal war am Schluß der 5 resp. 6 Unterrichtsstunde (siehe Anl. 2: Stundenplan) durchschnittlich größer als in der Schulstube; ein 3-stündiger Klassenaufsatz ermüdet, in der frischen Luft geschrieben, weit weniger, auch wenn das Thema nicht gerade lautet: Was bietet mir der Aufenthalt in der Natur? Da unter der frischen Seebrise Hitzeferien selbstverständlich nicht gegeben werden brauchten und auch andere Anläße wie die Abhaltung von Examina wegfielen, sind weniger Schulstunden ausgesetzt als in Berlin.

Mit der gleichen Regelmäßigkeit wurden die Schularbeiten aufgegeben, die dann meist im Freien angefertigt sind, entweder zu mehreren gemeinsam an der großen Eßtafel oder einzeln an den kleinen Tischen, in der ersten Zeit häufiger vorgebrachte Klagen mancher Schüler, sie könnten nicht ungestört arbeiten, konnte mit Fug entgegengehalten werden, daß jeder, der sich konzentrieren wolle, auf einer so großen Insel ein geeignetes Plätzchen mit Leichtigkeit finden werde. Vokabeln ließen sich besonders gut lernen hoch im Baum auf selbstgezimmerter Bank. Einige versicherten, in Scharfenberg mehr als zu Hause zu arbeiten, weil das Beispiel präparierender Kameraden auch sie zum Mittun veranlasse. Zettel etwa folgenden Inhalts, am Abend unter die Tischlampe des Lehrers geschoben, "Wecken Sie mich bitte morgen 1 Stunde früher als die andern, da ich den Livius noch einmal durchpauken muß, Fritz." waren keine Seltenheit. Im allgemeinen reichte die Zeit zwischen Mittagessen und Vesperbrot von 2 1/2 bis 4 1/2 Uhr aus; an den Besuchstagen der Eltern war einige Rücksicht genommen; war wirklich einmal an einem anderen Tage etwas mehr zu tun oder brachten langsamere Arbeiter ihre Aufgaben bis zum Nachmittagskaffee nicht zustande, war nachher die Beteiligung an Sport und Spiel geringer. Eine direkte Beaufsichtigung hatten die Lehrer absichtlich nicht eingeführt; aber sie waren immer erreichbar und auf Wunsch bereit, im Unterricht dunkel Gebliebenes noch einmal zu erklären oder mit einschlägigen Büchern den Suchenden weiterzuhelfen, den Schwerfälligen namentlich beim Nachübersetzen fremdsprachlicher Lektüre oder in den Nöten der Lösung mathematischer Aufgaben Zeit zu ersparen. Gerade die Gruppe der Fleißigen, aber langsamer begreifenden Schüler hat denn auch während der Sommerschulzeit die erfreulichsten Fortschritte gemacht. ber die Sorgenkinder sich auszusprechen, Mittel und Wege der Förderung gemeinsam zu finden, ihre Beobachtungen an den einzelnen Schülerindividualitäten auszutauschen, bot sich den Lehrern ganz andere Gelegenheit als in den Massenkonferenzen, so empfanden sie denn auch beim Ausstellen der Zensuren diesmal den kahlen Lakonismus farbloser Zahlen doppelt peinlich und glaubten sich berechtigt, jedem Schüler unter der Rubrik Bemerkung eine ausführliche Charakteristik seines außerunterrichtlichen Verhaltens, eine individuell abgewogene Würdigung seiner Stellung zur Gemeinschaft als Erinnerungsblatt an diese außergewöhnliche Schulsemester mit auf den Weg zu geben. Die unterrichtlichen Leistungen der Schüler standen den in anderen Jahren erreichten keineswegs nach, der Wiedereintritt ins Humboldt-Gymnasium nach den Michaelisferien brachte in dieser Beziehung nicht die geringsten Schwierigkeiten, das Pensum war geschafft; ja, man kann mit gutem Grunde behaupten, daß alle Fächer je nach ihrer Struktur größere oder kleinere Sondergewinne davon getragen hatten.

Der Betrieb im fremdsprachlichen Unterricht wies naturgemäß die geringsten Veränderungen auf; aber auch hier zeigten sich die Schüler im allgemeinen munterer, frischer, erschlossen sich dem Unterrichtenden leichter, nahmen die schwierigeren weniger beliebten Kapitel der Grammatik bereitwilliger auf, da sie ihnen von einem Unterrichtenden geboten wurden, mit dem sie jetzt so viele außerdienstliche Beziehungen verbanden. Wie oft sind Beispielsätze aus der Grammatikstunde etwa zur Frage der vorzeitigen oder gleichzeitig vollendeten Handlung in endlosen Variationen scherzhaft bei Tisch angewandt! Daß sich die Metamorphosen Ovids [Anm. 4] unter dem Rauschen richtiger Bäume oder die Nausikagesänge am Ufer des Sees stimmungsvoller lasen, stärkerer innerer Anteilnahme begegneten, bedarf kaum der Hervorhebung; für Homer, dessen Reliefskopf durch eine seltsame Zufälligkeit neben dem Schillers uns vom Giebel unseres Hauses grüßte, herrschte bald eine wirklich aus dem Herzen kommende Begeisterung; mit selten tiefer Andacht lauschte man, als an einem Regenabend in sachlichem Zusammenhang mit dem Unterricht Odysseus' Floßfahrt von der Insel der Kalypso in der Übertragung von R. A. Schröder zu Gehör gebracht wurde [Anm. 5]. Auch in der französischen Lektüre fanden sich persönliche Anknüpfungspunkte, wie etwa Daudets bittere Schülererinnerungen in Le petit chose Vergleiche [Anm. 6] mit unseren so ganz anders gearteten Internatsverhältnissen herausforderten. - Die Durchnahme der -hnlichkeitssätze in der Gymnasialabteilung oder die der quadratischen Gleichungen und der Elemente der Trigonometrie, des mathematischen Pensums der Realisten, konnte des öfteren durch die im Freien ausgeführten Messungen von abgesteckten Dreiecken, durch Höhenbestimmungen von Bäumen, des Wohnhauses, der Sonne mittels Schattenlängen, die trigonometrische Errechnung der beim Wettschwimmen zurückgelegten Strecke belebt werden. Auch in der für die Realabteilung gesondert zu gebende Physikstunde über Optik und Akustik wurden mit Hilfe einiger Spiegel, Prismen und Linsen eine ganze Anzahl von Freihandversuchen gemacht; in ihrer Mußezeit haben die Schüler einfache Apparate selbst angefertigt, z.B. ein Photometer, eine Kamera obskura, einen Apparat zum Abstecken rechter Winkel und anderes. Ungünstiger Stand es um das naturwissenschaftliche Pensum der Gesamtklasse - die Einführung in die Chemie; hier war das einzige Mal, wo von der Erlaubnis des Herrn Oberschulrats, gegebenenfalls vom Vorgeschriebenen abzuweichen, Gebrauch gemacht werden mußte; der Lehrer verschob diejenigen Abschnitte, die sich mit den einfachen in Scharfenberg zu Gebote stehenden Mitteln nicht darstellen ließen, auf den Anfang des Wintersemesters und benutzte die dadurch gewonnen Stunden zu Wiederholungen, aus der sich hier Schritt für Schritt aufdrängenden Naturkunde. Im Mai, als es ringsum grünte und blühte, kamen die Schüler ganz von selbst dazu, nach den Namen der Pflanzen, von denen sie verschwindend wenige kannten, sich zu erkundigen, sich im Gebrauch der Bestimmungstabellen unterweisen zu lassen, womit sie bald in ganz anderer Weise als im bisherigen Schulunterricht vertraut waren. Einige wurden dadurch angeregt, die Scharfenbergflora in Herbarien zu sammeln, andere haben Raupen sich verpuppen lassen, Maulwürfe, Eidechsen, Blindschleichen gefangen, man beobachtete die Lebensgewohnheiten des Igels und die Parasiten an Pflanzen- und Wassertieren oder gar das Verzehren eines Frosches durch eine in einem Bottich gehaltene Ringelnatter; die Fische wurden in ihrem Hochzeitskleid bewundert und mikroskopische Untersuchungen von lebenden Insekten und Wasserinfusorien angestellt. Lebensbilder aus der Tierwelt von H. Löns oder Kleine Astronomische Abende - im Freien vorgelesen - regten zu weiteren Beobachtungen der Wasservögel sowie zum Studium der Sterne mit Hilfe des aus dem Physiksaal mitgeführten Teleskops an. Der Erweiterung des Gesichtskreises auf dem Gebiete der Technik dienten eine gemeinsame Besichtigung des und benachbarten Wasserwerks mit seinen interessanten Filteranlagen und ein Halbtagsbesuch der städtischen Gasanstalt in Tegel, dem ein Vortrag eines Schülervaters, des Chemikers an diesem Riesenwerk, über die Entstehung des Gases und die Verwertung der Nebenprodukte instruktiv vorbereitet hatte. - Da es etwas Unnatürliches hatte, in den Erdkundestunden aus der uns umgebenden Landschaft immer in die Ferne zu schweifen, wurde durch beschleunigte Behandlung Westeuropas Zeit erübrigt, die heimische Havel, den Tegeler See, das Netz der sich anschließenden Kanäle und Verbindungsarme, die Wirtschaftsgeographie und die geologische Entstehungsgeschichte der Mark Brandenburg spezieller zu besprechen. Fontanes Bilder von Spandau, Tegel und Umgegend wurden den Schülervorträgen zu Grunde gelegt. Zur Orientierung nach Karte und Meßtischblatt gaben die Kahnpartien und die Nachtübung erwünschten Anlaß.

Starke ethische Wirkungen stellten sich noch ungezwungener als sonst im Religionsunterricht ein. Ganz abgesehen davon, daß Bibelstunden im unmittelbaren Anblick der herrlichen Gotteswelt ihre eigenen Reize haben, die das Interesse unbewußt beleben; konnte es etwas Natürlicheres geben als bei der Besprechung der paulinischen Religionsauffassung seines Kampfes gegen die Judenchristen an die unfreiwillig belauschend im Bett äußerst lebhaft geführten Diskussionen eines konfessionell gemischten Zimmers über den Wert der verschiedenen Bekenntnisse, über Wunderglauben und Atheismus anzuknüpfen, sie zu klären und die Schüler auf den von ihnen selbst gewiesenen Wegen an die tieferen Fragen der Weltanschauung heranzuführen? - Auch die katholischen Schüler haben ihren vollen Religionsunterricht gehabt, da der kath. Religionslehrer der Anstalt Herr Kaplan Heisig am Montag jeder Woche auf 2 Stunden zu uns extra herauskam.

Auch der Geschichtsunterricht ging nicht ganz ohne Nebengewinn aus; an 2 Nachmittagen in der Woche wurden die Niederschriften im Geschichtsheft unter Anleitung des Lehrers gemeinsam erarbeitet, wodurch die Fähigkeit, Hauptsachen von Nebensachen zu unterscheiden, die Kunst, in scharfer Disposition auf knappen Raum vieles zusammenzufassen, wesentlich gefördert ist, wie die im Winter zu Haus allein weitergeführten Hefte beweisen. Ebenfalls zeigt sich noch heute, wie sehr den schwächsten Historikern das Zusammenleben mit besseren und das gegenseitige Abhören zugute gekommen ist. Die Interessierten drangen auf gemeinsame Abendlektüre historischer Werke, unter denen Strindbergs Miniaturen [Anm. 7] und die Wasa - und Carolingerporträts Verner von Heidenstams [Anm. 8] die stärksten Eindrücke hinterließen. Die Leseabende, an denen so schön die schwere Kunst des Zuhörens, des "Schweigens in der Gefaßtheit des Geistes" geübt werden kann, wurden häufiger noch mit dem deutschen Unterricht verknüpft. Was am Vormittag nur hatte gestreift werden können, lasen dem Abendessen Lehrer und Schüler im trauten Kreis den Kameraden vor; so fand beispielsweise das Genießen der Romantik Eichendorffs und Brentanos, deren Dichtung sich der Stimmung eines Unterrichts im Freien besonders gut anschmiegen, in der gemeinsamen Lektüre der alten Volksbücher, der Eddalieder, der Geister- und Spukgeschichten von [Justinius] Kerner [(1786-1862)] und E.Th.A. Hoffmann seine Fortsetzung. Oder eine Art literarischer Verein fand sich an Sonnabendnachmittagen auf dem Scharfenberg oder manchmal noch ganz spät im Zimmer des Lehrers zu systematisch gepflegtem Deklamationsübungen zusammen, die je im gewöhnlichen Schulbetrieb aus Mangel an Zeit meist zu kurz kommen, an einem Unterhaltungsabend, der dem Wasser in Poesie und Musik gewidmet war, zeigten sie, was sie gelernt hatten, wenngleich der Wert solcher Darbietungen vielleicht noch mehr in der Vorbereitung als im Erfolg beruht. Derartige Betätigung war den Schülern im Sommer so lieb geworden, daß auf ihren dringenden Wunsch nun auch im Gymnasium die eine von 3 deutschen Stunden für freiwillige Deklamation reserviert bleiben muß, die von den Hörern selbst auf Stimmzetteln schriftlich beurteilt werden. Und es ist charakteristisch, daß sie dabei seit Scharfenberg sehr wenig eigentliche Balladen wählen, sondern fast nur zarte, rein lyrische Gedichte von Eichendorff, Hölderlin, Heine, Lenau, Storm, Mörike, C.F. Meyer, die diesem Jugendalter gewöhnlich stumm zu bleiben pflegen; taufrische Morgenschönheit, melancholische Abendstimmung, Mondscheinpreis, Sternenpracht, See- und Kahnpoesie - das haben sie inzwischen selbst wirklich empfunden, und so können sie nun den Worten der Dichter auch einen Inhalt geben. Allerdings können sich Sondererfolge auf diesem Gebiet speziell auch im eigentlichen Unterricht nur bei längerer Dauer des Aufenthalts entwickeln; nach einem Vierteljahr noch las der Lehrer in Schriften von Andressen, G.H. Neuendorff und Hofstätter die Behauptung, daß aus solcher Arbeitsgemeinschaft keinem Fache solcher Segen zufließen werde wie dem Deutschen voller Zweifel; am Schluß des 2. Vierteljahres war er versucht, dem zuzustimmen. Der Abstand zwischen den ersten Aufsätzen in Scharfenberg und den letzten war so groß, als ob nicht eine Spanne von einem Semester, sondern mindestens von einem Jahre zwischen ihnen gelegen hätte; an den selbst gewählten Aufgaben aus dem unmittelbaren täglichen Erleben, die sie nach berwindung einer anfänglich großen Scheu bevorzugten (etwa: Was muß Dr. Bolle, der frühere Besitzer der Insel, für ein Mensch gewesen sein? - Was bietet mir das dauernde Zusammensein mit den Kameraden und Lehrern? - Was mir meine Gerätekammer erzählt - ein Traum eines Spielwarts. - O, die bösen Wespen! - ein Tiermärchen aus Anlaß eines Tischerlebnisses. - Auf abendlichem Kriegspfad in Scharfenberg. - Auf zum Baden! - Ein Hafengespräch zwischen dem Fährkahn und dem Doppelskuller, - die Mehrfahrt nach Stolpe, ein Heldengesang in Hexametern), hat sich die selbständige stilistische Gestaltungskraft ganz anders entfalten können als an den literarischen Themen, zu den man sonst wohl oder übel in der Hauptsache schon auf dieser Stufe greifen muß. Auch in den Unterrichtsstunden verlaufen jetzt völlig anders als vorher; wenn Gelesenes besprochen werden soll, fragen fast nur noch die Schüler, andere suchen ihnen die gewünschte Aufklärung zu geben oder die erhobenen Zweifel zu entkräften; sie debattieren darüber gegeneinander, erzählen zur Erläuterung frank und frei nach eigenen Erlebnissen, erbieten sich, über diesen oder jenen Punkt nach Büchern noch genauer Auskunft zu erteilen oder über Volkskundliches sich etwa durch Handwerkerbesuche zu orientieren; sie führen abwechselnd über den Gang der deutschen Stunden Protokolle, die dann, nachdem die Klasse selbst sachliche und stilistische Kritik geübt hat, in ein dazu angeschafftes Buch eingetragen werden. Versuche, eine derartige Arbeitsunterrichtsmethode auf andere als die Scharfenbergklasse zu übertragen, sind fast völlig gescheitert. - Unterrichtsprotokolle verfassen zu lassen, ward Brauch, weil die gewählten Schriftführer nur recht unzulängliche Berichte über den Verlauf der Schulgemeindesitzung in Scharfenberg zu liefern vermocht hatten. Diese haben dort alle acht Tage in Form einer Abendaussprache stattgefunden. Zunächst überwog der aus den täglichen Bedürfnissen naturgemäß reicher als daheim in der "Schulgemeinde" zuströmende Stoff. Die Schüler äußerten sich über die verschiedenartigen Wirkungen des Unterrichts in Berlin und draußen, brachten ihre Wünsche über Schularbeiten und Speiseplan vor, machten praktische Vorschläge etwa für eine stabilere Befestigung der Bänke auf dem Schulplatz oder zu noch sorgfältigerem Beobachten hygienischer Maßnahmen; Anträge, eine Tamburin- und eine Schlagballriege zu gründen, wurden gestellt, Ausfahrten und Festprogramme vorberaten; die Mehrheit beschloß, das tägliche Tischgebet durch Wechsel der Sprecher und die Möglichkeit, auch nachdenkliche Dichtersprüche als Tagessegen zu wählen, vor formelhafter Erstarrung zu bewahren; aus Anlaß eines Budenvorkommnisses erklärte man mit allen gegen 2 Stimmen nach lebhafter Debatte das Rauchen mit dem Zweck und dem Charakter des Sommerschullebens für unvereinbar. Ein andermal stand ein Schülervortrag über die Lüge auf der Tagesordnung, der dazu aufforderte, aus dem engen Verhältnis zu den Lehrern die moralisch gebotenen Konsequenzen zu ziehen und vor allem auch später aus dem städtischen Schulleben den Geist der Unehrlichkeit zu verbannen. Ein Antrag, die Abendaussprache nur bei besonderem Anlaß abzuhalten, ward abgelehnt; auch hier erwies sich Regelmäßigkeit bei kurzfristiger Periodizität als ein Hauptmittel zum Eingewöhnen in die Schulgemeinde. Es ist bezeichnend, daß die Schüler der U II 0 sich jetzt im Winter durch Anregung und lebhaftere Beteiligung an der Debatte als Sauerteig der inzwischen etwas schal gewordenen Gesamtschulgemeindesitzungen erweisen; es kann als ein Erfolg der Scharfenbergzeit gebucht werden, daß dies Jahr das Stolper Weihnachts- und Neujahrsfest durch Majoritätsbeschluß zum ersten Mal ohne Alkohol gefeiert wird. Im 2. Vierteljahr wurden die Abendaussprachen gewöhnlich durch musikalisches Vorspiel der Hauskapelle (Geige, Cello, Harmonium) stimmungsvoll eingeleitet und geschlossen; auch sonst ist, seitdem ein ehemaliger Schüler, der Musik studiert, in einem 3-wöchigen Zusammenwohnen mit den Jungen die Freude am Zusammenspiel geweckt hatte, in Abendstunden und sonntags viel musiziert worden; eine freudig begrüßte Abwechslung und ein hoher musikalischer Genuß für alle war der Mozartabend, den einige Herren der akademischen Orchestervereinigung an der Universität Berlin im August in unserem Saal veranstalteten. Da zum Harmonium und zur Laute im Chor gesungen wurde, kam das Musikalische trotz Wegfall des stundenplanmäßigen Gesangsunterrichts nicht zu kurz. Gesang und Musik sollten sich mit dem Theaterspiel der Schüler bei der Aufführung des Kaysslerschen Fünfakters Simplicius [Anm. 9] an vier verschiedenen zur Handlung des Stückes passenden Stellen des Parks vor ca. 100 geladenen Gästen - Eltern und Geschwistern der Schüler - dem Schülerausschuß und einigen Lehrern des Gymnasiums - zu einer künstlerischen Gesamtwirkung vereinigen. Der Lehrer empfand bei den Proben gar sehr den Unterschied zu früheren Einstudierungen, hatte da mit Rücksicht auf die zeitraubenden Verkehrsverhältnisse alles in großer Hast erledigt werden müssen, diesmal konnten sich alle in ihre Rolle allmählich einleben und wirklich in den Geist der tiefen Dichtung eindringen. Unvergeßlich die Abendprobe, als Simplicius und Helga ihre schwere Szene noch im Mondenschein übten und schließlich ihren Stimmungsgehalt so verinnerlicht herausbrachten, wie es ihnen auch nachher nicht mehr gelungen ist! Herzlicher Beifall ertönte aus allen Zimmern, wo die Kameraden bei offenen Fenstern schon in den Betten lagen. Auch ward es in stärkerem Sinne als sonst das Werk der Gemeinschaft: 19 Schüler aus einer Klasse wirkten mit, es war ein hübsches Bild, als an den letzten Abenden nach anstrengenden Proben noch alle bis in die Nacht Programmzettel schrieben, die Druckkosten zu ersparen. Als nach dem Ende des Spiels die Teilnehmer oben auf dem Scharfenberg, wo sie vorher als Trolle und Elfen ihr Wesen getrieben hatten, weit über das Wasser leuchtende Fackeln abbrannten und sich in dem Rundgesang "Flamme empor!" eng zusammenschlossen, spürten doch wohl alle Herzen etwas von der gemeinschaftsbildenden Kraft solcher Feste. In ähnlich gehobener Stimmung fuhr man einige Wochen später im Motorboot mit Kostümen und Requisiten zum Stolper Heim, um dort die Aufführung vor einem nach vielen Hundert zählenden Schüler- und Elternpublikum zu wiederholen. Auf der nächtlichen Heimfahrt zur Insel freuten sich die todmüden Scharfenberger in dem Bewußtsein, die Gesamtschulgemeinde aus ihren Finanznöten gerettet zu haben. Der Satz: Es gibt nur eine Tugend, die, sich selber zu vergessen und nur ein Laster, an sich selbst zu denken, war keineswegs allen von vornherein selbstverständliche Maxime. Selbst bei größeren finanziellen Mitteln, die das Einstellen von Personal ermöglichten, dürfte man auf die täglichen "Dienste" der Schüler nicht verzichten, dabei konnte man am besten Selbstüberwindung lernen und endlich einsehen, daß man nicht immer fragen darf, ob es der andere auch tut, sondern daß man vor allem selbst zupacken soll, ohne sich auf die Trägheit und Selbstsucht der anderen zu berufen. Das Scheuern der Marmortreppe im Vestibül, die in blendender Weiße erstrahlen zu lassen, den Ehrgeiz reizte, ist manchem eine Willensübung im Försterschen Sinne geworden. -ußerst förderlich in dieser Beziehung erwies sich der Einfluß älterer Schüler und Studenten, die für ihre selbstlose Mithilfe in den Vorbereitungswochen das Recht bekommen hatten, zeitweise in einem für sie freigehaltenen Gastzimmer zu logieren. Man kann nicht genug Hilfskräfte suchen, die Selbsttätigkeit anzuregen, die sich insbesondere, soweit körperliche Kräfte im Spiel sein mußten, weit geringer erwies, als die Lehrer angenommen hatten. Zumal zu gärtnerischen und landwirtschaftlichen Arbeiten war nur geringe Lust vorhanden, man wollte offenbar nicht gern graben und säen, wo vielleicht andere ernteten. Allerdings fehlten bei uns im ersten Jahr der Bewirtschaftung noch mancherlei sachliche Vorbedingungen für ein glückliches Gedeihen dieser Bestrebungen; doch im ganzen bestätigen auch unsere Erfahrungen, daß die Großstadtjugend in diesem Alter keine große Neigung dazu hat, was auch sonst beobachtet ist. Wird doch aus den Landschulheimen der Frankfurter Musterschule berichtet, daß die Gartenarbeit der Schüler trotz Vorhandensein eines Obstgärtners erst nach obligatorischer Einführung in Gang gekommen sei; und die Viktoriaschule hat, wie im deutschen Philologenblatt erzählt ist, mit Rücksicht auf die zu große Anstrengung die Versuche fallen lassen.

S c h l u s s.

Wie im Vorjahre für die Frankfurter Experimente hat sich die Oeffentlichkeit in diesem Jahr lebhaft (manchmal mehr als uns bei stiller Nachmittagsbeschäftigung mit den Jungen lieb war) für die erste Berliner Sommerschule interessiert. Das Askanische und das Friedrichs-Gymnasium, das Werner-Siemens-Realgymnasium, die Fichterealschule u.a. entsandten Kollegen, die ähnliche Gründungen vorbereiten sollen. Abteilungen des Gross-Berliner Lehrervereins, die Landesturnanstalt Spandau, der Direktor des Jugendamtes, Vertreter des Gesundheitsamtes und des Stadions besichtigten das Heim. Eine Dame aus dem Haager Erziehungsbeirat, die im Nieuws Courant vom 8. Juli von de school in de open lucht op het eiland in het Tegeler Meer gelesen hatte [Anm. 10] , weilte einen Nachmittag unter den Jungen; ein schwedischer Schulmann schilderte seine persönlichen Eindrücke in schwedischen Zeitungen. Der Berliner Börsenkurier wusste von dem ersten Versuch "einer Insulanerschule" zu berichten, Morgenpost [Anm. 11] und Allgemeine Zeitung [Anm. 12] brachten Beschreibungen des "Naturwunders im Tegeler See", das Berliner Tageblatt vom 6.7. veröffentlichte Stimmungsbilder "aus dem Phäskenleben der Humboldtsekundaner" [Anm. 13], der Illustrationsverlag Phototek machte mit Erlaubnis des Magistrats Aufnahmen aus dem internen Betrieb; die Vossische Zeitung vom 21.8. überschrieb ihre ausführliche pädagogische Würdigung "die Schule im Freien" und freute sich besonders über "die innere Gemeinschaft, in der die äusseren Formen der Disziplin nichts und die Zuneigung von Mensch zu Mensch alles bedeute" [Anm. 14], der Vorwärts billigt den Versuch der Stadt Berlin, "endlich die herrliche Insel auszunutzen", der Stadtverordnete Witte erzählt im Mitteilungsblatt des Philologen Vereins von der "Gemeinschaftsschule" auf der Insel Scharfenberg; der Discipulus vom November 21 wies seine Leser auf den praktischen Versuch des Humboldt-Gymnasiums hin und der Lokal-Anzeiger vom 4. November und vom 27. November [Anm. 15] stellte das Sommerschulunternehmen als einen neuen Typus den Schülererholungsheimen und den Waldschulen gegenüber. Alle Blätter hoffen, dass der Versuch fortgesetzt und nachgeahmt wird.

Freilich sind die Schwierigkeiten gerade um der charakteristischen Sonderheiten willen, welche das Berliner Sommerschulunternehmen auch von den in den letzten 2 Jahren begründeten Landschulheimen anderer Stadtschulen unterscheidet nicht gering. Das Frankfurter Reformrealgymnasium vereinigt in Soden erholungsbedürftige Schüler aller Klassen, wobei sich "der Unterricht je nach Wunsch der Eltern darauf beschränkt, dass die Schüler, die bis dahin erworbenen Kenntnisse nicht vergessen, oder sich bemüht, sie bei verkürzter Unterrichtszeit in kleinen Gruppen so zu fördern, dass sie nicht zurückbleiben". (Zentralblatt für die gesamte Unterrichtverwaltung in Preussen 1921, S. 390 [Anm. 16]); ebenso verfährt das Berliner Dorotheenstädtische Realgymnasium in seinem vor wenigen Wochen eröffneten Riesengebirgsheim; die Frankfurter Viktoriaschule und die Göttinger-Kaiser-Wilhelm-Oberrealschule entsenden ganze Klassen, aber nur mit ihrem Ordinarius, den zeitweise ein Referendar unterstützt, und nur auf kurze Zeit (ein bis dreissig Tage). (Zentralblatt 1921, S. 472 [Anm. 17]). Es gehörte eine ganz besonderen Gunst der Umstände dazu, dass sich drei Lehrer mit den notwendigen Fakultäten zur Fortführung des unverkürzten Unterrichts in einem Kollegium zusammenfinden, und dass die Eltern aller Schüler einer Klasse auf die Zeit von mehreren Monaten resp. für das gesamte Sommerhalbjahr ihr Einverständnis geben.

Die drei Studienräte des Humboldtgymnasiums sind gewillt, das Sommerschulunternehmen zu wiederholen, es sei denn, dass das Kollegium seine Einwilligung versagt oder die städtischen Behörden ihre weitergehenden Pläne auf ihrem zu einer Schulinsel prädestinierten Besitz schon 1922 zu verwirklichen beginnen.


Anmerkungen:

Anm. 1
LIETZMANN, W., Landheimpädagogik [an der Kaiser-Wilhelm II-Oberrealschule in Götingen], in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen, Jg. 63 (1921), S. 471-473, hier S. 472.

Anm. 2
LIETZ, Hermann, Lebenserinnerungen. Von Leben und Arbeit eines deutschen Erziehers, hrsg. von Erich MEISSNER, Veckenstedt 1920. - 2. unveränd. Aufl. Veckenstedt 1921. - 3. Aufl. Veckenstedt 1922. - 4./5. Aufl. neu hrsg. und durch Briefe und Berichte ergänzt von Alfred ANDEREESEN, Weimar 1935. - Der Band befindet sich mit dem handschriftlichen Vermerk "Gekauft und auszugsweise vorgelesen im Scharfenberger Herbst. 1921. Bl[ume]." in: Berlin, LA: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg.

Anm. 3
PRELLWITZ, Gertrud, Drude, 3 Bde., Oberhof 1920-1923.

Anm. 4
OVID, Metamorphosen. Auswahl für den Schulgebrauch, bearb. und erl. von Franz HARDER (=Sammlung lateinischer und griechischer Schulausgaben), Bielefeld 1921.

Anm. 5
HOMER, Odysee. Neu übertragen von Rudolf Alexander SCHRÖDER, Leipzig 1911.

Anm. 6
DAUDET, Alphonse, Le petit Chose. Für den Schulgebrauch hrsg. von G. BALKE, 4. Aufl. Leipzig 1920.

Anm. 7
STRINDBERG, August, Historische Miniaturen, 8. Aufl. München 1912.

Anm. 8
S. u.a.: HEIDENSTAM, Verner von, Die Schweden und ihre Häuptlinge. Ein Buch für Junge und Alte, 2 Teile, München 1909/1911. - HEIDENSTAM, Verner von, Die Karolinger. Erzählungen aus der Zeit Karls XII., Leipzig 1911. - HEIDENSTAM, Verner von, Karl XII. und seine Krieger, 2 Teile, München o.J. [1916/1918].

Anm. 9
KAYßLER, Friedrich, Simplicius. Tragisches Märchen in fünf Akten, Berlin 1905.

Anm. 10
De school in de open lucht, in: Nieuwe Courant (Den Haag) vom 08.07.1921.

Anm. 11
Die Insel Scharfenberg. Ihre Bedeutung für die Naturwissenschaft, in: Berliner Morgenpost vom 21.05.1921.

Anm. 12
Die Robinsonschule, in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 16.03.1922, Morgenausgabe.

Anm. 13
J., R., Die Schule im Freien. Auf der Insel Scharfenberg, in: Berliner Tageblatt und Handelszeitung vom 06.07.1921.

Anm. 14
HILDEBRANDT, Paul, Die Schule im Freien. Das Humboldtgymnasium auf der Insel Scharfenberg, in: Vossische Zeitung vom 21.08.1921.

Anm. 15
KUTSCHERA, K., Schulunterricht im Freien, in: Berliner Lokal-Anzeiger vom 27.11.1921.

Anm. 16
Reformrealgymnasium 'Musterschule' [Frankfurt], Oberweg 5, in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen, Jg. 63 (1921), S. 390.

Anm. 17
LIETZMANN, W., Landheimpädagogik [an der Kaiser-Wilhelm II-Oberrealschule in Götingen], in: Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen, Jg. 63 (1921), S. 471-473, hier S. 472.


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